The idea of the autonomous, fixed musical work has cast a long shadow over one of the oldest and most vital musical practices—improvisation.

How the “Work-Concept” Changed Music

In Western musical culture, the score stands as an undisputed symbol of musical authority and lasting art. It is the blueprint for what we call “the work.” However, this idea is more recent than many people assume. In her groundbreaking book The Imaginary Museum of Musical Works (1992), the philosopher Lydia Goehr sheds light on the emergence of this phenomenon and shows how a cultural concept that took hold around 1800 radically reshaped the musical landscape. Her central argument: the idea of the autonomous, fixed musical work has cast a long shadow over one of the oldest and most vital musical practices—improvisation.

Before 1800: The Flourishing of Improvisation

Long before composers like Beethoven and Wagner cemented the musical work as a sacrosanct final product, music was a fluid and often ephemeral art form. In the Baroque and Classical eras, it was completely normal for musicians not only to play the compositions of others but also to improvise their own embellishments, cadenzas, and even entire sections. The musical event was paramount, not the untouchable score. The performance was a creative act that gave the performer as much freedom and responsibility as the composer. Bach’s virtuosic preludes and fugues or Mozart’s cadenzas were often starting points for improvisational flights of fancy developed by the musicians themselves or their students.

The “Work-Concept” and Its Power

With the rise of bourgeois concert life, the publication of sheet music, and a new aesthetic that centered the genius of the composer, the musical landscape changed fundamentally. **Goehr argues that the work-concept is not simply a description but a regulative idea.** It is a concept that normatively structures musical production, reception, and interpretation.

  • Fixity and Autonomy:The work became a fixed, unchangeable entity that primarily existed in the score. This score became the sole bearer of musical truth. Every performance was understood as an attempt to get as close as possible to this ideal.
  • Marginalization of Improvisation: In this new cultural framework, improvisation became a problem. It was no longer considered a legitimate part of musical practice but an deviation from the original, something incomplete, or even a lack of rigor. The freedom of the improvising musician was perceived as a threat to the integrity of the work. As the original text describes, improvisation was “marginalized” and pushed into the shadows. Goehr emphasizes that this was not a “natural” musical process but the result of a conceptual shift driven by historical, social, and economic factors.

Goehr’s View on Improvisation and the Rediscovery of Its Freedom

Goehr not only highlights the historicity of the work-concept but also opens our eyes to the possibility that music can be liberated from this concept. Her analysis is not a nostalgic plea for the past but a call to question the dominant position of the work-concept. She shows that improvisation did not simply disappear but continued to live on in other contexts—in jazz, the blues, world music, and certain avant-garde movements.

By exposing the work-concept as historically contingent, Goehr creates a space where improvisation can emerge from the shadow of fixed composition. She legitimizes improvisation as an art form in its own right, one that should not be measured against the standards of the fixed score. Improvisation is not an “incomplete work” but a complete musical event with its own logic, conventions, and aesthetic.

Today, in a world where genre boundaries are blurring and music is constantly being rearranged digitally, Goehr’s thesis gains new relevance. She encourages us to see music not just as something created by a composer and reproduced by a performer, but as a living, collaborative practice where the freedom and creativity of the moment play a central role.

Improvisation im Schatten der Partitur

Wie der Werkbegriff die Musik veränderte

In der westlichen Musikkultur steht die Partitur als unangefochtenes Symbol für musikalische Autorität und bleibende Kunst. Sie ist die Blaupause für das, was wir als “das Werk” bezeichnen. Doch diese Vorstellung ist historisch jünger, als viele annehmen. Die Philosophin **Lydia Goehr** beleuchtet in ihrem bahnbrechenden Buch *The Imaginary Museum of Musical Works* (1992) die Entstehung dieses Phänomens und zeigt, wie ein kulturelles Konzept, das um 1800 festen Fuß fasste, die Musiklandschaft radikal umgestaltete. Ihr zentrales Argument: Die Idee vom autonomen, fixierten musikalischen Werk hat einen langen Schatten auf eine der ältesten und vitalsten musikalischen Praktiken geworfen – die Improvisation.

Kunst als kollektive Aktivität

Becker argumentiert, dass hinter jedem Kunstwerk, sei es ein Gemälde, ein Ballett oder ein Jazzstück, eine Vielzahl von Menschen steht. Er nennt diese Akteure das “unterstützende Personal” – eine Gruppe, die ebenso wichtig ist wie die Künstler*innen selbst. Dazu gehören Produzent*innen, Verleger*innen, Techniker*innen, Galerist*innen, Kritiker*innen und nicht zuletzt das Publikum. Ein symphonisches Konzert beispielsweise erfordert nicht nur die Komponist*innen und Dirigent*innen, sondern auch die Instrumentenbauer*innen, die Saalleitung, die Notenverleger*innen, die Ticketverkäufer*innen und die Kritiker*innen, die dem Stück Anerkennung verschaffen. Ohne dieses Netzwerk könnte das Werk weder entstehen noch rezipiert werden.

Dieser Ansatz stellt die traditionelle Hierarchie der Kunst auf den Kopf. Becker differenziert hierbei zwischen “integrierten Profis” (die sich an die Konventionen halten), “Mavericks” (die bewusst Normen brechen) und “Folk- oder naive Künstler*innen” (die außerhalb der etablierten Kunstwelt agieren). Alle diese Rollen existieren innerhalb eines sozialen Feldes, dessen Struktur und Grenzen ständig neu verhandelt werden.

Vor 1800: Die Blüte der Improvisation

Lange bevor Komponisten wie Beethoven und Wagner das musikalische Werk als sakrosanktes Endprodukt zementierten, war die Musik eine fluide und oft ephemere Kunstform. Im Barock und in der Klassik war es völlig üblich, dass Musiker nicht nur die Kompositionen anderer spielten, sondern auch ihre eigenen Verzierungen, Kadenzen und sogar ganze Abschnitte improvisierten. Das musikalische Ereignis stand im Vordergrund, nicht die unantastbare Partitur. Die Ausführung war ein schöpferischer Akt, der dem Interpreten ebenso viel Freiheit und Verantwortung zuschrieb wie dem Komponisten. Bachs virtuose Präludien und Fugen oder Mozarts Kadenzen waren oft Ausgangspunkte für improvisatorische Höhenflüge, die von den Musikern selbst oder ihren Schülern entwickelt wurden.

Der Werkbegriff und seine Macht

Mit dem Aufkommen des bürgerlichen Konzertwesens, der Veröffentlichung von Noten und einer neuen Ästhetik, die das Genie des Komponisten in den Mittelpunkt stellte, veränderte sich die Musiklandschaft grundlegend. Goehr argumentiert, dass der Werkbegriff nicht einfach eine Beschreibung, sondern eine regulative Idee ist. Es handelt sich um ein Konzept, das die Musikproduktion, die Rezeption und die Interpretation normativ strukturiert.

  • Fixierung und Autonomie: Das Werk wurde zur festen, unveränderlichen Entität, die primär in der Partitur existierte. Diese Partitur wurde zum Träger der einzigen, autoritativen musikalischen Wahrheit. Jede Aufführung wurde als Versuch verstanden, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen.
  • Marginalisierung der Improvisation: In diesem neuen kulturellen Rahmen wurde die Improvisation zu einem Problem. Sie galt nicht mehr als legitimer Teil der musikalischen Praxis, sondern als eine Abweichung vom Original, als etwas Unvollständiges oder gar als Mangel an Strenge. Die Freiheit des improvisierenden Musikers wurde als Bedrohung für die Integrität des Werkes wahrgenommen. Die Improvisation wurde, wie der Ausgangstext beschreibt, „marginalisiert“ und in den Schatten gedrängt. Goehr betont, dass dies kein “natürlicher” musikalischer Prozess war, sondern das Resultat eines konzeptionellen Wandels, der von historischen, sozialen und ökonomischen Faktoren angetrieben wurde.

Goehrs Blick auf die Improvisation und die Wiederentdeckung ihrer Freiheit

Goehr stellt nicht nur die Historizität des Werkbegriffs heraus, sondern öffnet damit auch den Blick für die Möglichkeit, dass die Musik von diesem Konzept befreit werden kann. Ihre Analyse ist kein nostalgisches Plädoyer für die Vergangenheit, sondern ein Aufruf, die dominierende Position des Werkbegriffs zu hinterfragen. Sie zeigt, dass die Improvisation nicht einfach verschwunden ist, sondern in anderen Kontexten weiterlebte – im Jazz, im Blues, in der Weltmusik und in bestimmten Avantgarde-Strömungen.

Indem sie den Werkbegriff als historisch kontingent entlarvt, schafft Goehr einen Raum, in dem die Improvisation aus dem Schatten der fixen Komposition heraustreten kann. Sie legitimiert die Improvisation als eigenständige Kunstform, die nicht an den Maßstäben der fixen Partitur gemessen werden sollte. Die Improvisation ist kein “unvollständiges Werk”, sondern ein vollständiges musikalisches Ereignis, das seine eigene Logik, seine eigenen Konventionen und seine eigene Ästhetik besitzt.

Heute, in einer Welt, in der Grenzen zwischen Genres verschwimmen und Musik digital immer wieder neu arrangiert wird, gewinnt Goehrs These an neuer Relevanz. Sie ermutigt uns, Musik nicht nur als etwas zu betrachten, das von einem Komponisten erschaffen und von einem Interpreten reproduziert wird, sondern als eine lebendige, kollaborative Praxis, in der die Freiheit und Kreativität des Augenblicks eine zentrale Rolle spielen.